Buch

Intime Ver­quickung:
Rebellion und Unter­­drückung

Berlin; Professor*in für Geschlechter­forschung an der TU Berlin; bloggt auf blog.feministische-studien.de

Es gibt Bücher und es gibt gewichtige Bücher. Zu denen von Gewicht gehört ohne Zweifel Judith Butlers Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, erstmals erschienen 1990. Ein schmaler Band, kaum 170 Seiten im Original. Bis heute erinnere ich den Moment, als ich es im Frühjahr 1990 im Universitätsbuchladen der San Francisco State Uni­versity aus dem Regal zog. Der Name Judith Butler sagte mir nichts. In meinen Women’s-­Studies-Seminaren im Jahr zuvor hatte sie nicht zum Lesekanon gehört. Gender Trouble war in diesem Frühling ein noch kaum gelesenes, geschweige denn diskutiertes, verworfenes, verteidigtes Buch. Aber für mich in dieser Sekunde schon ein troublemaker. Ich hatte begonnen, über mein Dissertationsthema nachzudenken. Es sollte um Identitätskritik gehen, genauer um eine Kritik lesbischer Identitäts­politik. Ein Thema, von dem viele sagten, dass es im deutschen Kontext kein Thema sei. Und hier war nun ein Buch, das genau diese Frage bearbeitet hatte: Feminism and the Subversion of Identity. Meine Dissertation schien am Ende, bevor sie begonnen war. Leicht beun­ru­higt verließ ich den Buchladen mit Gender Trouble im Rucksack.

Vom Cover des Buchs blickten mich aus einer gealterten Fotografie zwei ernste Augenpaare an. Zwei Kinder, noch keine Teenager. Geschwister vielleicht. Auf den ersten Blick unentscheidbar, ob desselben oder verschiedenen Geschlechts. Die Hand des kleineren Kindes auf der Schulter des großen. Durch diese Geste verbunden, doch durch einen Falz in der Mitte des Fotos nachträglich getrennt. Beide Kinder in langärmliger, üppig mit Rü­schen besetzter Kleidung. In Hosen das eine, im Kleid das andere. Das jüngere mit einem zeitlos wirkenden Kurzhaarschnitt, das ältere Kind trägt die Haare lang, in der Mitte gescheitelt, im Nacken zusammengebunden. Beide wirken auf eine berührende Art verletzlich und strahlen zugleich starke Entschlossenheit aus. Besonders das ältere Kind im Rüschenkleid scheint den Moment herbeizusehnen, an dem es sich dieses Kleid wieder vom Leib würde reißen können. Kurz erinnerte ich mich an das letzte Mal, dass ich ein Kleid getragen hatte. Ich meinte zu wissen, was das Kind auf diesem Foto, von dem mich mehr als nur die Jahrzehnte trennten, im Moment des Fotografiertwerdens empfunden hatte. Ein einsamer Moment.

Die Buchrückseite liefert spärliche Hinweise zum Foto. „Agnes und Inez Albright“ heißt es dort. Schwestern also. Wird das Foto dadurch eindeutig lesbar? Wissen wir nun mehr als zuvor? Verkörpern die Schwestern Inez und Agnes in einer seltsam anmutenden repräsentationalen Treue gegenüber dem butlerschen Text die intime Verquickung von Rebellion und Unterdrückung, über die Butler gleich auf der ersten Seite des Buches spricht? Sollen wir das Foto als Illustration der Theorie verstehen oder gar, im Sinne Butlers, als performative Iteration von gender lesen? Spiegelt hier schlicht Performanz Performativität? Im Text selbst spielt das Foto keine Rolle. Es bleibt ein ungelesener Paratext zum trouble, den gender verursachen kann, zur Kraft der Subversion, der jede Identitäts­behauptung ausgesetzt ist.

Die Buchrückseite hält noch eine weitere Information bereit. Das Foto sei von Catherine ­Nicholson zur Verfügung gestellt worden und zuerst erschienen auf dem Cover der 21. Ausgabe von Sinister Wisdom, ein seit 1976 bis heute verlegtes Multicultural Lesbian Literary & Art Journal. Ein Detail, das das Cover verschweigt. Aber eine Spur, die mich weit zurück ins Archiv führt. Nicholson war eine der Gründerinnen der Zeitschrift und die Ausgabe 21, herausgegeben von niemand Geringerem als Michelle Cliff und Adrienne Rich, widmete sich der Frage, wie lesbisches Leben überhaupt repräsentiert werden kann. Meiner Dissertation stand nichts mehr im Wege.