„You’re not seeing the whole
picture“ – Guerrilla Girls
Anke Therese Schulz
MA, PhD, ist Soziologin, Kunsthistorikerin, Künstlerin und Kuratorin mit Schwerpunkt auf feministische und Menschenrechtskunst.Auf ihrem Plakat mit dem Titel „You’re not seeing the whole picture“ fordert das radikal-feministische US-Künstlerinnenkollektiv Guerrilla Girls die Öffentlichkeit auf, an ihrer Protestaktion gegen die Sonderausstellung Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert im Martin-Gropius-Bau Berlin teilzunehmen. Auf der linken Seite des Plakats ist das lebensgroße Markenzeichen der Guerrilla Girls zu sehen: ein Gorillakopf mit aufgerissenem Maul, entblößten Zähnen und weiblichen Augen, die durch die Gorillamaske den Betrachter direkt anblicken. Auf der rechten Seite des Plakats wird der Anlass zur Protestaktion bekanntgegeben, nämlich die mangelnde Repräsentation von Frauen und sozialen Minderheiten in der oben genannten Großausstellung, die vom 8. Mai bis 25. Juli 1993 gezeigt wurde. Obwohl in der Ausstellung Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert Exponate von rund 600 amerikanischen Künstlern zur Schau gestellt wurden, stammte nur ein Bruchteil von Frauen und sozialen Minderheiten. Nach Ansicht der Guerrilla Girls war dies eine empörende Situation, weil sie die fehlerhafte Idee verbreitete, dass nur weiße Männer dazu fähig seien, edle und hochwertige Kunst herzustellen. Von der intersektional-feministischen Perspektive der Guerrilla Girls sind unrepräsentative Kunstausstellungen wie Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert gesellschaftlich schädlich, da sie existierende strukturelle Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, sozialen Mehrheiten und Minderheiten, reproduzieren und vermehren – nicht nur in der Kunstwelt, sondern auf weltweiter, sozialen Ebene. Um der patriarchalischen Dominanz der weißen Mehrheit in der Kunstwelt entgegenzutreten, gründeten die Guerrilla Girls 1985 ihr anonymes Kollektiv in New York City; seitdem agieren sie als „conscience of the art world“ („Gewissen der Kunstwelt“) – eine Rolle, die sie in der letzten Zeile des Plakats (unten rechts, nach der Signatur) explizit bekanntgeben. Der Titel „You‘re not seeing the whole picture“ („Du siehst nicht das gesamte Bild“) drückt das Hauptargument der Guerrilla Girls aus, nämlich dass unrepräsentative Kunstausstellungen wie Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert lediglich den stark begrenzten, künstlerischen Geschmack einer Handvoll reicher, mächtiger, weißer Männer widerspiegeln. Das heißt, sie sind nicht Ausstellungen einer Kultur, sondern Ausstellungen kultureller Macht. Für mich als Kunsthistorikerin und Soziologin stellt dieses Objekt ein außergewöhnliches Exemplar feministischer Kunst dar – hauptsächlich, weil es gleichzeitig als Kunstwerk und politisches Instrument fungiert. Diese Doppelkapazität ist in der materiellen Form realisiert: Das Objekt wurde nicht nur als politisches Plakat entworfen, sondern auch als Maske, die für die geplante Protestaktion am Martin-Gropius-Bau bestimmt war. Die Maske konnte hergestellt werden, indem man die schriftlichen Anweisungen auf dem Plakat befolgte – etwa „tape here“ („hier mit Tesa kleben“), „fold here“ („hier falten“) und „cut out eyes“ („Augen ausschneiden“). Als Plakat und Maske übt das Objekt mehrere Funktionen aus: Aufklärung der Öffentlichkeit, Protest gegen Sexismus und Rassismus in der Kunstwelt, Verbreitung der Frauenbewegung in Berlin. Besonders interessant ist, dass das Plakat so von den Guerrilla Girls gestaltet wurde, dass es die Fähigkeit besitzt, passive Betrachter/innen in aktive, politische Akteure zu verwandeln. So wurde dem vermeintlich leblosen, statischen Objekt die Kraft verliehen, neue Aktivistinnen für die feministische Bewegung zu gewinnen.